Kolumne «Südostschweiz», 8. September 2023, von Mathias Zopfi, Ständerat Grüne Kanton Glarus

In diesen Tagen feiert die moderne Schweiz den 175. Geburtstag. Die Verfassung von 1848 war eine grosse Errungenschaft. Noch im Jahr davor bekriegten sich die liberalen und die konservativen Kantone. Der Kriegsausgang hat nicht nur das Fundament für die moderne Schweiz gelegt, sondern war auch für das liberale Glarus wichtig. Hätte der Sonderbund gewonnen, wäre unser Kanton vielleicht zerstückelt und den Nachbarkantonen zugeschlagen worden.
Es gibt also guten Grund zu feiern und sich zu informieren. Das ist zum Beispiel am kommenden Dienstag im Rathaus oder auch am 16. September mit der öffentlichen Rede von Bundeskanzler Walter Thurnheer, notabene ein begnadeter Redner, möglich.

Passend zum Jubiläum habe ich vergangene Woche als Präsident der Staatspolitischen Kommission einen Parlamentarier aus Nepal getroffen. Er studiert vor Ort Föderalismus und Demokratie. Nepal war bis vor 15 Jahren eine Monarchie, und ist auf dem Weg zur Demokratie. Mein Gesprächspartner schilderte mir, wie die Regierung mehr Föderalismus einführen will, aber die Bevölkerung skeptisch sei. Es brauche halt Zeit.

Auch unser System musste sich entwickeln. 1848 brachte den modernen Bundesstaat mit den heutigen Bundesbehörden, aber das «typisch schweizerische» Referendumssystem wurde erst 1874 eingeführt. 1891 kam das Initiativrecht hinzu. Und es dauerte nochmals fast 70 Jahre, bis alle damaligen Kräfte in die Regierung eingebunden wurden.

Bemerkenswert ist, dass konservative Kantone wie Glarus mit dem Stimmrechtsalter 16 und Appenzell mit dem Ausländerstimmrecht auf Gemeindeebene heute punktuell mehr Demokratie wagen als der Bund und grössere Kantone.
Mathias Zopfi, Ständerat Grüne Kanton Glarus

Es haben sich viele Aspekte unserer Demokratie erst im Verlauf dieser 175 Jahre entwickelt. Es brauchte auch bei uns Zeit. Das gilt auch für den Föderalismus. In der Schweiz haben die Kantone Kompetenzen nach oben zum Bund delegiert, also ein Föderalismus bottom-up, während in Nepal der Zentralstaat den Föderalismus top-down einführt. Die letzten 175 Jahre hat der Bund, insbesondere das Parlament, mehr Kompetenzen zu sich gezogen. Nepal geht den umgekehrten Weg.

In beiden Staaten ist – auf unterschiedlichem Demokratieniveau – dieser Weg nicht abgeschlossen. Nepal kann punktuell von uns lernen. Aber unser System ist nicht perfekt. 1848 nahm die Schweiz mit dem allgemeinen Männerwahlrecht einen Spitzenplatz im Demokratieranking ein. Ab dem ersten Weltkrieg überholten uns andere Länder, weil die Frauen bedenklich spät einbezogen wurden. Doch seit dem Frauenstimmrecht geht der Prozentsatz der Stimmberechtigten an der Bevölkerung wieder zurück. Und nie seit 1959 waren weniger Wählerinnen und Wähler bzw. deren gewählte Parteien im Bundesrat vertreten.

So komme ich zum Schluss, dass Nepal und die Schweiz am Ende doch den gleichen Weg vor sich haben: Den Weg zu mehr und breiter abgestützter Demokratie. Die Reise ist nach 175 Jahren nicht zu Ende. Bemerkenswert ist, dass konservative Kantone wie Glarus mit dem Stimmrechtsalter 16 und Appenzell mit dem Ausländerstimmrecht auf Gemeindeebene heute punktuell mehr Demokratie wagen als der Bund und grössere Kantone. Einige Kantone lassen zudem längst mehr Parteien in der Regierung teilhaben als der Bund. All das führt dazu, dass unser politisches System insgesamt ein weltweites Vorbild bleibt.

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