von Karl Stadler, Landrat Glarus Süd
Die vergangenen Monate haben uns klar gemacht, wie die Rückkehr des Wolfes aussieht. In kurzer Zeit sind eine beträchtliche Anzahl Tiere auf der Ostseite von Linth und Sernf aufgetaucht. Eine weitere Verbreitung im ganzen Kanton ist als fast sicher anzunehmen. Das hat sehr emotionale Reaktionen hervorgerufen. Ich plädiere für mehr Gelassenheit und Realitätssinn. Objektiv gesehen ist noch nicht viel passiert: Sichtungen in Dorfnähe oder in Dörfern, einige gerissene Schafe und eine grössere Anzahl gerissener Wildtiere. Meines Wissens ist aber keine Person bedroht worden. Das überrascht nicht. In den letzten Jahrzehnten sind tödliche Angriffe durch gesunde Wölfe auf Menschen in der westlichen Welt an einer Hand abzuzählen. Was in Leserbriefen im Kanton zur direkten Gefahr für Menschen geäussert wurde, ist keine realistische Einschätzung. Die Gefahr und Unsicherheit, die beispielsweise von Hunden oder Mutterkühen in Wandergebieten ausgeht, ist auf jeden Fall um ein Mehrfaches grösser. Vorsicht im Umgang mit Wölfen ist trotzdem am Platz. Wölfe, die sich tatsächlich problematisch verhalten, sollten vertrieben, von den zuständigen Stellen vergrämt oder im Ausnahmefall sogar getötet werden.
Es ist verständlich, dass sich die Landwirtschaft vor der Alpsaison über die Anwesenheit der Wölfe Sorgen macht. Sie werden zu einer zusätzlichen Naturgefahr für Nutztiere. Bei den Schafen und Ziegen auf den Alpen kann zum bisherigen Verlust durch Absturz, Stein- und Blitzschlag sowie Krankheit nun der Wolfsangriff kommen. Diese Verluste machen in den bisherigen Wolfsgebieten aber nur einen kleinen Teil aus und können durch Schutzmassnahmen stark reduziert werden. Die finanziellen Schäden werden durch Bund und Kanton kompensiert.
Eine gewisse Gefahr kann auch für die Weidehaltung in Siedlungsnähe nicht ausgeschlossen werden, vor allem wenn Tiere nachts nicht in die Ställe oder Pferche geholt werden. Und dass Bäuerinnen und Bauern den nicht durch Schlachtung bedingten Tod von jedem einzelnen ihrer Tiere bedauern, ist verständlich. Auch begreiflich ist, dass die nun vermehrt notwendigen Schutzmassnahmen als zusätzlicher Aufwand alles andere als geschätzt werden, zumal nicht alle Mehrleistungen entschädigt werden. Umgekehrt erstaunt es, dass von Kantonsseite die Alpen noch nicht dahingehend klassifiziert worden sind, wie und mit welchem Aufwand sie zu schützen sind.
Gibt es einen Gewinn für den Kanton und die Schweiz durch die Rückkehr der Wölfe? Die Forstwirtschaft ist froh um die mögliche Reduktion der Anzahl Wildtiere, welche dem Schutz- und dem Nutzwald Verbissschäden zufügen. Biologinnen und Ökologen betonen, wie wichtig ein vollständiges Ökosystem ist, in dem alle Elemente ihre Funktion erfüllen können. Der Tourismus wird mit einem wilden und naturbelassenen Glarnerland werben können.
Die Rückkehr des Wolfes ist eine Tatsache. Sie darf aus rechtlichen Gründen nicht abgewehrt werden – und soll es aus naturschützerischen Gründen auch nicht. Das Auftauchen der Wölfe ist eine Veränderung im Zusammenspiel zwischen der natürlichen Umgebung und der menschlichen Kultur. Diese Veränderungen hat es immer gegeben, auf der positiven Seite etwa mit der Rückkehr der Rothirsche und Steinböcke, auf der negativen Seite etwa mit dem Rückgang der Zahl von Insekten und Singvögeln, dem Artenverlust generell sowie der ungestoppten Klimaschädigung. Gefragt wären die starken Emotionen und Eingriffe eigentlich auch bei diesen Entwicklungen.
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