Hinschauen statt unsichtbar machen
Wenn ich einen Satz nennen müsste, auf den die politische Diskussion für die nächsten Jahre restlos verzichten soll, dann wäre es der: “In der Schweiz ist die Gleichstellung der Geschlechter schon erreicht.” Und zwar aus mehreren Gründen: Erstens ist die Aussage im Kern eine Gesprächsverweigerung. Sie bedeutet, dass man nicht mehr bereit ist, hinzuschauen, sondern bereits glaubt zu wissen, wie die Dinge liegen. Zweitens werden Identitäten, die ausserhalb der Binarität Mann/Frau liegen, gänzlich ignoriert. Und drittens werden bestehende geschlechtsspezifische Missstände in ihrer Bedeutung heruntergespielt und unsichtbar gemacht.
Ein Thema, welches in eben diese unsichtbar gemachte Kategorie fällt, ist das Thema psychische Gewalt an Frauen. Die Kampagne «16 Tage gegen Gewalt an Frauen», welche jährlich vom 25. November bis 10. Dezember stattfindet, macht dieses Jahr genau darauf aufmerksam. Und das ist ausgesprochen wichtig. Denn in Europa sind über 40% der Frauen von psychischen Gewalterfahrungen betroffen. Mindestens genauso stark betroffen sind Menschen ausserhalb binärer Geschlechtsvorstellungen. Nur werden diese in den statistischen Befragungen und Auswertungen nicht erfasst und somit nicht abgebildet.
In die Kategorie psychischer Gewaltangriffe fallen beispielsweise Beleidigungen, Erniedrigungen, (Mord-)Drohungen oder Stalking. Zentral sind dabei Macht und Kontrolle über die betroffene Person. Diese Form von Gewalt kann durch ihre subtile Funktionsweise überall auftreten, oftmals auch so, dass von Aussenstehenden nichts bemerkt wird. Psychische Gewalt wird oft durch Personen aus dem nahen Umfeld – also vielleicht dem Ehemann oder dem Exfreund – oder aus anonymer Distanz – wie Hassnachrichten auf Instagram – ausgeübt. Das macht es für Betroffene schwierig, sich Hilfe zu holen.
Um diese Hürde abzubauen, sind zwei Elemente von essenzieller Bedeutung. Erstens muss das Problem «psychische Gewalt» als solches erkannt werden. Zweitens müssen Gesetze sowie konkrete Hilfs- und Präventionsangebote institutionalisiert werden, die das Thema abdecken. Aktuell gibt es in der Schweiz zum Beispiel keine Definition für Stalking als strafrechtlichen Bestand. Wird jemand also im Alltag verfolgt, ist das noch kein Grund für rechtliches Vorgehen. Diese Exponierung macht Betroffene angreifbarer für andere Formen von Gewalt. Weiter schützt das Opferhilfegesetz, welches zuletzt 2009 revidiert wurde, zwar vor körperlicher und sexueller Gewalt im häuslichen Umfeld, jedoch nicht vor psychischer. Betroffene haben keinen Anspruch auf Hilfe. Das erhöht ihr Risiko für Angstzustände und Depressionen, was das Hilfeholen nahezu unmöglich macht.
Diese Lücken bestehen. Und das waren nur zwei Beispiele. Der Schutz vor geschlechtsspezifischer, psychischer Gewalt in der Schweiz ist unzureichend. Die Folgen für die Betroffenen sind nicht zu verantworten. Es ist wichtig, dass wir hinschauen. Und dass wir darüber sprechen. Nur so entdecken wir die Lücken. Nur so können wir wirksam gegen geschlechtsspezifische psychische Gewalt einstehen.